„Die „Charta der Mindestforderungen“ eine bedeutende Initiative für einen neuen Aufschwung des demokratisch-antifaschistischen Volksaufstandes in Iran„
Wir dokumentieren hier den Redebeitrag von Jürgen Riflin (ICOR) auf der Soli-Kundgebung am 4. März 2022:
„In völliger Verkennung der Wirklichkeit und der eigenen Propaganda verfallen, behauptete noch im Februar Irans Präsident Ebrahim Raisi: „Das iranische Volk stehe (…) hinter der islamischen Herrschaft.“ (HHAB, 11.2.)

Und das, obwohl zu dem Zeitpunkt den Mullahs die Gas-Angriffe auf Schülerinnen und Studentinnen in 15 Städten bekannt war. In den zurückliegenden drei Monaten bis heute sind diesen Angriffen bisher 1.200 Schülerinnen und Studentinnen zum Opfer gefallen und viele mussten mit ihren Vergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sie können nun zu neuerlich auflodernden Protesten von Hunderttausenden Menschen werden. So hat der Koordinierungsrat der iranischen Lehrergewerkschaften für diese Woche zu einer landesweiten Protestaktion aufgerufen. „Wer auch immer hinter diesen Angriffen steckt, sollte wissen, dass die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler unsere rote Linie ist“, so Mohammed Habibi, Mitglied der iranischen Lehrergewerkschaft in Teheran.
Dass es seit Jahresbeginn einen Rückgang der Straßendemonstrationen gibt und seit Ende Januar die großen Streiks – vor allem in der Petrochemie – unterbrochen sind, bedeutet keinesfalls das Ende der Massenproteste und schon gar nicht eine Zufriedenheit der Menschen mit dem faschistischen Mullah-Regime.
Die perfiden Attacken auf Mädchen und junge Frauen, die lernen wollen, können das Fass erneut zum Überlaufen bringen. Das Fass, das ist die wirtschaftliche Krise im Land, die sich weiter verschärft hat. Mit einer Hyperinflation von 50 Prozent und mehr drängt sie Millionen Menschen des Iran in die Armut. Offiziell wurden 94 Menschen im Januar und Februar nach Angaben von Amnesty International durch die Mullahs hingerichtet. Sieht so Zufriedenheit aus? Wohl kaum!
Selbstverständlich fordern die Verhältnisse auch weiterhin den Protest und Widerstand der Menschen in Iran heraus. Das verhindern auch die 18 Abschaltungen des Internets in Iran im vergangenen Jahr nicht.
Die Proteste im Iran halten für den Augenblick auf niedrigerer Stufe mit Arbeiterprotesten und Streiks an; immer mehr Frauen verweigern sich bewusst in der Öffentlichkeit dem „Kleiderzwang“, und bei den Protesten vor den Gefängnissen wird die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert bzw. gerufen: „Nieder mit dem Regime!“ Auch sind die Freilassung Tausender Gefangener durch das Regime ein Ausdruck seiner Schwäche und ein Erfolg der Solidaritätsbewegung – auch weltweit.
Bedeutend für die gegenwärtige Entwicklung in Iran ist vielmehr, dass in den unabhängigen Gewerkschaften, Frauenorganisationen, der Rentnervereinigung, an den Unis und unter den Menschen des demokratischen Volksaufstands ein intensiver Prozess der Diskussion zur Verarbeitung der Massenaufstände, der Ziele und Methoden des Kampfes begonnen hat.
Ausdruck dieses Verarbeitungsprozesses ist eine umfassende und allseitige „Charta der Mindestforderungen“, die von über 20 selbständigen Gewerkschaften (wie Erdöl, Zucker-Industrie, Lehrergewerkschaft, Metallarbeiter…) Rentnerorganisationen, verschiedenen Frauenkomitees, Schüler- und Studentenvereinigungen erarbeitet und unterzeichnet wurde. In einem Zwölf-Punkte-Programm wird unter anderem die Forderung nach Freilassung aller politischen Gefangenen, nach demokratischen Rechten und Freiheiten, wie „bedingungslose Freiheit der Meinung, der Rede, der Gedanken, der Presse, der Bildung von Parteien, lokalen und nationalen Gewerkschafts- und Massenorganisationen, von Versammlungen, Streiks, Demonstrationen, sozialen Medien sowie audiovisuellen Medien“ gefordert.
Und weiter, die „Unverzügliche Erklärung der vollen Gleichstellung der Rechte von Frauen und Männern in allen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und familiären Bereichen, bedingungslose Abschaffung diskriminierender Gesetze“ wird ebenfalls verlangt. In der Charta werden der Staatsapparat und seine Organe angegriffen und es wird die „Auflösung der Repressionsorgane, Einschränkung der Regierungsgewalt“ gefordert.
Sehr bedeutend ist auch die Forderung nach Beendigung der Umweltzerstörung und Aufhebung der Kinderarbeit sowie eine Reihe weiterer fortschrittlicher Forderungen auf sozialem Gebiet, sowie ein „Verbot des Erwerbs von Atomwaffen“ und das „Streben nach weltweitem Frieden.“
Der Punkt Atomwaffen ist auch deswegen schon ein wichtiger Punkt, weil vor einigen Tagen berichtet wurde, dass in Iran 84% reines Uran gefunden wurde, also Uran, dass bei 90% Reinheit zum Bau von Atombomben verwendet werden kann.
Ohne es beim Namen zu nennen, ist diese Charta ein richtig gehendes, umfassendes Kampfprogramm für den breiten Zusammenschluss und die weitere Festigung des demokratischen Volksaufstandes, mit Siegeszuversicht gegen das faschistische Regime und für seinen Sturz.
Viele iranische Revolutionäre berichten über eine sehr schöpferische und solidarische Diskussion. Auch darüber, dass weitere Arbeiterorganisationen, wie die Busfahrergewerkschaft in Teheran, diese „Charta“ beraten. Solche Fragen, wie die, dass der Kampf mit einem klaren Ziel des Sturzes der herrschenden Bourgeoisie zu führen ist, werden beraten. Dazu kommt die Frage, welche gesellschaftlichen Verhältnisse für den Iran dieser Kampf erstreiten soll.
Das ist umso bedeutender, als dass das alleinherrschende internationale Finanzkapital durchaus nicht untätig ist. In Iran sollen lediglich durch die sogenannten „Reformer“ im Parlament die reaktionärsten Auswüchse des Systems beseitigt werden, und es wird auf eine Verfassungsänderung nach Vorbild einer bürgerlich-parlamentarischen Herrschaft orientiert.
Aus den USA eingeladen zur Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar bot diese der sogenannten „iranischen Opposition“ eine Bühne. Reza Pahlavi, ältester Sohn des 1979 von den Arbeitern und den Massen in Iran gestürzten Schahs! Er durfte mit Vertretern des US- und EU-Imperialismus konferieren. „Einig sind sie sich in ihrer Ablehnung der Islamischen Republik und dem Streben nach einer demokratischen Regierungsform in Iran.“ (Süddeutsche Zeitung vom 20.02.) Es gehört schon eine Portion Unverfrorenheit dazu, die faschistische Herkunft und damit verbundene Orientierung von Reza Pahlavi zu verschweigen. Auch hat Reza Pahlavi sich nie öffentlich von den faschistischen Machenschaften seines Vaters und der Kollaboration mit dem US-Imperialismus distanziert. Immerhin orakelt die Süddeutsche Zeitung, dass „Pahlavi unter Iranern eine äußerst umstrittene Figur ist.“
Wir bleiben weiterhin wachsam, wenn hier die USA und/oder die EU sich wieder konterrevolutionär einzumischen versucht und erneut die demokratische Revolution der Menschen in Iran zu verraten sucht.
In der „Charta“ heißt es: „….ständige und direkte Beteiligung der Bevölkerung an der Regelung der Angelegenheiten des Landes durch lokale und nationale Räte. Das Recht, die Inhaber aller staatlichen und nicht staatlichen Ämter jederzeit abzuwählen, muss ein Grundrecht der Wähler sein.“ Auch an anderen Stellen werden damit Grundfragen und Prinzipien einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung aufgeworfen. Es wird eine ausschlaggebende Seite der gegenwärtigen Phase sein, dass diese volksdemokratischen Ansätze auf die Diskussion in Iran verstärkt Einfluss nehmen.“
Münster: Spontan-Demo gegen irakischen Angriff auf Şengal/Nordirak – Rede: Jürgen Riflin