Münster: Stolpersteine gegen das Vergessen – Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus – Familie Saul

„Auf einmal war die Familie verschwunden. Praktisch über Nacht“.
Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig in Münster, verlegt mit dem Verein „Spuren Finden e.V.“: Familie Saul. Letzter Wohnort in Münster: Schleswigerstraße 25.

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Fotos: (1): Münster Tube, (2): „Niedersachsenbad“: Leonie Schust

Vier Namen sind in die aus Messing gefertigten 10×10 cm großen Gedenktafeln auf dem Gehweg vor dem Haus Schleswigerstraße 25 eingraviert : Friedrich, Hedwig, Ingeborg und Ruth Saul, 1942 im KZ Trawniki ermordet. Die schrecklichen Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben auch vor den Mitgliedern des Wohnungsvereins, damals Beamtenwohnungsverein, nicht Halt gemacht. Wer war die Familie Saul, die dort in den Jahren 1929 bis 1938 gelebt hat? Der Wohnungsverein Münster hat versucht, näheres über die Familie jüdischen Glaubens in Erfahrung zu bringen. Hierzu hat der Wohnungsverein mit Menschen das Gespräch gesucht, die zu dieser Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft mit der Familie Saul gewohnt haben. Ihre Erinnerungen sollten damit helfen, den Familienmitgliedern wieder ein Gesicht zu geben, insbesondere als Mahnmal und gegen das Vergessen.

Friedrich Saul, geb. am 26.04.1889 in Preußisch Stargard (Starogard), war Postinspektor und trat dem Beamtenwohnungsverein am 19.02.1921 als Mitglied bei. Im April des gleichen Jahres heiratete er seine Ehefrau Hedwig (geb. Hurwitz, am 13.02.1895 in Levern, Kreis Lübbecke ). Danach wohnte das Paar mit der Tochter Ingeborg, geb. am 24.10.1925, in der Sternstr. 42. Es folgte die Geburt der zweiten Tochter namens Ruth am 30.07.1929. In diesem Jahr wurden die Häuser an der Schleswiger Straße fertiggestellt, und die Familie zog in die Parterrewohnung des Hauses Nr. 25.

Eine Nachbarin erinnert sich: „Die Familie war sehr korrekt und freundlich. Ingeborg wurde Inge genannt. Sie war etwas jünger als ich und zurückhaltend. Mit einem anderen Kind habe ich während der Zeit des Paschafestes einmal in der Wohnung der Familie von dem Matzen (ungesäuertes Brot) kosten dürfen. Wir waren dort stets willkommen.“ Die 30er Jahre waren für die jüdischen Bürger schwer. Der Boykott jüdischer Geschäfte und der Ausschluss jüdischer Personen von Berufen des öffentlichen Dienstes in Münster im Jahre 1933 waren der 1. Anschlag auf die wirtschaftliche und berufliche Existenz vieler deutscher BürgerInnen jüdischen Glaubens.

Friedrich Saul war Beamter und hatte im 1. Weltkrieg als Soldat für das Land gekämpft. Hierfür wurde ihm 1933 das „Ehrenkreuz“ für Weltkriegsteilnehmer verliehen. Dies war der Grund dafür, dass er vorerst nicht von den Entlassungen betroffen war. Doch seine Auszeichnung verlieh ihm nur für kurze Zeit Sicherheit, denn mit der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 wurden auch alle als ehemalige „Frontkämpfer“ beamtete jüdische Personen entlassen. Eine Nachbarin erinnert sich: „Den Vater habe ich noch in besonders guter Erinnerung. Er ging oft auf der Straße auf und ab mit seinem schwarzen Hut. Er war immer freundlich zu uns Kindern und grüßte jeden, der ihm entgegenkam, obschon nicht alle zurückgrüßten. Da er mehrmals am Tag spazieren ging, glaube ich, dass er damals keine Arbeit hatte. “Auch die Kinder Ingeborg und Ruth werden immer mehr gespürt haben, dass sie nach NS-Ideologie nicht mehr zur „Volksgemeinschaft“ dazu gehörten.

Viele jüdische Kinder mussten zu dieser Zeit die höheren Schulen zwangsweise verlassen und wurden in der jüdischen Volksschule unterrichtet. Inge besuchte bis zum Frühjahr 1938 das Annette-Gymnasium. Ob die Verkündigung der Nürnberger Gesetze aus dem Jahre 1935 eine Rolle bei der Abmeldung von der Schule gespielt hat, ist nicht auszuschließen. Eine erhöhte Abgangsquote jüdischer Schülerinnen in dieser Zeit betraf jedenfalls auch das Annette-Gymnasium.

Fotos: Gisela Möllenhoff / Rita Schlautmann-Overmeyer, Jüdische Familien in Münster 1918 – 1945. Teil I Biografisches Lexikon, Münster  2001. Collage: Münster Tube

Die Ausgrenzung und gesellschaftliche Isolierung der BürgerInnen jüdischen Glaubens in Münster war durch die Propaganda der Nationalsozialisten im Jahre 1938 bereits weit fortgeschritten. Dies beeinträchtigte leider auch den früher stets unbefangenen Umgang der Kinder untereinander.„Wenn wir auf der Straße Völkerball gespielt haben, waren die beiden nicht mehr dabei“, berichtet eine Nachbarin. „Ich glaubte damals, sie durften von den Eltern aus nicht mehr mit-spielen. Einige Eltern der nichtjüdischen Familien, aber auch die Eltern von Inge und Ruth, haben wohl aus Angst vor Schwierigkeiten den Kontakt der Kinder zueinander eingedämmt.“
„Vieles war uns Kindern nicht klar“, so eine andere Nachbarin, „die Eltern schwiegen, denn zu dieser Zeit musste man mit seinen Äußerungen sehr vorsichtig sein. Es war nicht richtig.“ „Die Kinder habe ich sehr gern gemocht. Sie waren ja einige Jahre jünger als ich, und wir wohnten im selben Haus in der 1. Etage. Oft habe ich auf die beiden aufgepasst, wenn die Eltern nicht da waren. Sie haben mir immer etwas Leckeres hingestellt. Ab und zu gab es sogar ein Eis.“ „Einmal habe ich die Familie Saul bei einem Spaziergang auf der Goldstraße getroffen.
Ich wollte mit ihnen zusammen gehen, aber Herr Saul bat mich, vorzugehen. Er sagte, mein Vater könnte sonst seine Stelle als Beamter verlieren. Ich verstand es damals nicht, weil es doch unsere Nachbarn waren und sagte ihm dies auch.
Frau Saul sagte daraufhin, auch wenn mein Vater keine Schwierigkeiten bekommen würde, sie (die Sauls) würden auf jeden Fall welche bekommen, wenn man weiter zusammen ginge.“ Viele jüdische Münsteraner flüchteten aus der Stadt, um sich im Ausland eine neue Zukunft aufzubauen.

Ehemaliger Gertrudenhof in Münster – (Sammelpunkt vor den Deportationen 1941/42), Warendorfer Straße, Ecke Kaiser-Wilhelm-Ring. Zuvor war der Gertrudenhof  Kino, Versammlungsraum und Biergarten. Er wurde am 11. Dezember 1941 von der Gestapo beschlagnahmt, um Münsters BürgerInnen jüdischen Glaubens dort vor ihrer Deportation in Richtung Osten zusammenzutreiben. Ziel war das deutsche Ghetto Riga (Lettland), das einem Vernichtungslager gleichkam. Foto: Stadtarchiv Münster.

Auch Friedrich Saul verließ Münster mit seiner Familie am 24.02.1938 und kam zunächst bei Verwandten in Rahden unter. Sechs Wochen später zog die Familie weiter nach Berlin. „Auf einmal war die Familie verschwunden. Praktisch über Nacht. Ich weiß nicht einmal, ob sie die Möbel mitgenommen haben, obwohl ich mich aufgrund meines Alters daran erinnern müsste. Es wurde leider nicht mit uns Kindern darüber geredet. Ich glaube, jeder war zu sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt“, sagt eine Nachbarin nachdenklich. Von Berlin aus schrieb die Familie einer ehemaligen Mitbewohnerin eine verschlüsselte Botschaft per Grußkarte, gut angekommen zu sein. Diese erinnert sich noch genau: „Wir hatten trotz der Boykottaufrufe immer ein sehr gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Die Grußkarte war das letzte Lebenszeichen an uns.“ Erst jetzt erfuhr sie von der Deportation der ehemaligen Nachbarn. „Das macht mich sehr traurig“, sagt sie sichtlich betroffen, „ich war immer in dem Glauben, dass sie doch noch rechtzeitig auswandern konnten. Es ist schlimm, was den Menschen angetan worden ist. So etwas darf nie wieder passieren.“Von Berlin aus wurde die Familie Saul im Jahre 1942 in das deutsche KZ/Durchgangslager Trawniki/Polen (etwa 40 km südöstlich von Lublin), ein Nebenlager des KZ Majdanek, deportiert und zu einem unbe-kannten Zeitpunkt ermordet.

Im Frühling 1942 wurden Juden aus Deutschland, Österreich und dem Protektorat Böhmen und Mähren nach Trawniki deportiert. Viele von ihnen starben an Unterernährung und Erschöpfung, andere wurden ins Belzecer Lager gebracht und wieder andere wurden in einem nahe gelegenem Wald erschossen.

Quellen: Wohnungsverein Münster, Möllendorf/Schlautmann-Overmeyer: Jüdische Familien in Münster, Zahnow: Judenverfolgung in Münster, Kuropka: Meldungen aus Münster 1924-1944, Holocaust.cz.

Von den im Jahre 1933 ursprünglich 708 Angehörigen der jüdischen Gemeinde wurden 299 Menschen in Konzentrationslager deportiert, von denen nur 24 überlebten. Insgesamt 280 jüdische Bürger verließen Münster und emigrierten ins Ausland, sieben begingen Selbstmord und vier überlebten den Nationalsozialismus in Münster im Untergrund. Abzüglich der 77 Personen, die in diesem Zeitraum eines natürlichen Todes starben, verbleiben 42 Menschen, deren Schicksal ungeklärt geblieben ist.

Münster: Zeitzeugengespräch mit Erna de Vries (Auschwitz-Überlebende)

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