Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Münster – Stolpersteine gegen das Vergessen: Henny Waldeck

Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig verlegt in Münster, mit dem Verein „Spuren Finden e.V.“ in der Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig in Münster, verlegt mit dem Verein „Spuren Finden e.V.“ in der Rudolf-von-Langen-Straße 42: Henny Waldeck (geb. Herzfeld).

*Sie wurde am 14. Januar1884 als drittes von sieben Kindern in Bochum geboren und im Mai 1944 in Auschwitz ermordet. Sie heiratete den Witwer Carl Waldeck, der aus erster Ehe noch einen Sohn hatte. Das Paar bekam nich vier eigene Kinder. Alle fünf Kinder überlebten den Holocaust. Carl Waldeck kam im Ghetto Theresienstadt um. Inzwischen trägt auch eine Straße in Münster ihren Namen: Henny-Waldeck-Weg, beschlossen von der Bezirksvertretung Münster-West am 12.Oktober 2017

Foto Stolperstein: Lothar Hill; Quelle Foto Henny Waldeck: Gisela Möllenhoff / Rita Schlautmann-Overmeyer, Jüdische Familien in Münster 1918 – 1945. Teil I Biographisches Lexikon, Münster 2001. Bild vergrößern.

Nach ihrer Heirat 1912 mit dem Witwer Carl Waldeck kam Henny Waldeck nach Münster. Dieser hatte 1899 eine Haushaltswarenhandlung in der Bogenstraße 18 in Münster eröffnet. Zusammen mit ihren eigenen vier Kindern zog Henny Waldeck den Sohn aus der ersten Ehe ihres Mannes auf. In den 1920er Jahren nahm sie ihren Vater zu sich, der 1935 in Münster starb.
Um ihre Kinder vor einer Außenseiterstellung zu bewahren (Unterricht am Sonntag für jüdische Kinder) setzte sie sich für Reform und Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft ein. Wegen des Geschäftsbetriebs fuhr sie mit den Kindern allein in Urlaub (z.B. nach Norderney), ihr Mann anschließend zur Kur.
Henny Waldeck war im Haushaltswarengeschäft ihres Ehemannes tätig, das sich seit 1918 am Roggenmarkt 10 befand, und ab 1932 am Alten Fischmarkt 11/12. Dort trafen den 63-jährigen Carl Waldeck Ende März 1933 die ersten Diskriminierungsmaßnahmen der NS-Regierung. Infolge der Weltwirtschaftskrise meldete er das Geschäft zum 31.3.1933 ab und besuchte seitdem als Vertreter seine ehemalige Kundschaft. Henry Waldeck eröffnete an der Rothenburg bis zum Verbot durch die „Nürnberger Gesetze“ einen Mittagstisch.

Henny und Carl Waldeck. Quelle Foto: Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer, Jüdische Familien in Münster 1918 bis 1945, Teil 1: Biographisches Lexikon, Münster 2001. Bild vergrößern.

In der Wohnung Rudolf-von-Langen-Straße 42, wo die Familie 1937 bis 1939 wohnte, nahm Henny Waldeck vier bis fünf jüdische Menschen in Kost und Logis. Der hohe Altersdurchschnitt der jüdischen Gemeindemitglieder bedingte einen vermehrten Aufwand an Sozialfürsorge. Da kaum jemand die Unterbringungskosten in einem jüdischen Altenheim aufbringen konnte, war ihre Privatpension sowohl für die Betagten, die in vertrauter Umgebung blieben, als auch für sie selbst (Zuverdienst) eine gute Lösung.
Zwischen 1934 und 1937 finanzierte das Ehepaar Waldeck die Emigration von dreien ihrer fünf Kinder, die in Deutschland keine Berufs- und Zukunftsperspektive hatten. Erst nach dem Pogrom 1938 sahen beide ihre eigene Existenz gefährdet. Im August 1939 baten sie die Devisenstelle um Ausfuhrgenehmigung des Umzugsgutes, das bereits bei einem Münsteraner Spediteur eingelagert war. Die geforderte „Ausfuhrförderungsabgabe“ für die zur Emigration neu angeschafften Gegenstände, wie Klappbetten und Petroleumkocher, konnten sie nicht mehr zahlen. Zu diesem Zeitpunkt hofften sie zum jüngsten Sohn nach Argentinien gelangen zu können, und hatten die Zusicherung des „Hilfsvereins der Deutschen Juden„, einen Teil der Überfahrtkosten zu übernehmen. Der Umzug zur Salzstraße 31 als Nachmieter des in die Niederlande emigrierten Arztes Dr. Levy erfolgte am 17.3.1940, obwohl die relativ teure Neubauwohnung Waldecks ihre finanziellen Verhältnisse überstieg.

Blick in die Rudolf-von-Langen-Straße. Foto: Lothar Hill. Bild vergrößern.

Mit der Ausweitung des Krieges wurde der Kontakt zu ihren Kindern – sie emigrierten zwischen 1926 und 1939 nach Palästina, Argentinien bzw. in die USA – immer schwieriger. Um für eine Flucht zu ihnen gerüstet zu sein, frischte Henny Waldeck ihre Englischkenntnisse auf und nahm mit ihrem Mann Spanischunterricht. Im November 1941 wurde Henny Waldeck mit ca. 12-15 jüdischen Frauen unterschiedlichen Alters in der „Kasein- und Trockenkartoffelfabrik Strohmeyer, Rodatz & Co.“ in Ostbevern-Brock zwangsverpflichtet. Sie berichtete ihrem Sohn darüber: „… es war nicht immer sehr leicht für mich, da ich jeden Morgen um 5 1/2 Uhr aufstehen muss, um 6 1/2 Uhr geht der Zug, nachmittags um 3 Uhr bin ich dann wieder zu Hause.“
Henny und Carl Waldeck hatten Anfang November 1941 die Wohnung Salzstraße räumen müssen und wurden im „Judenhaus“ Meppener Straße 27 untergebracht. Nun stand ihnen lediglich ein einziges Zimmer zur Verfügung: „…haben wir nun keine Einnahmen mehr und müssen sehen fertig zu werden, wir leben sehr einfach und bescheiden.“, berichteten sie den Kindern. Das bedeutete, dass sie keine Pensionsgäste mehr aufnehmen konnten und somit eine finanzielle Basis fehlte. Wenige Wochen später erfolgte die Deportation der meisten Insassen dieses „Judenhauses“ nach Riga. Hinsichtlich der „Verschickung“ der 57 Jahre alten Henny Waldeck mit ihrem 14 Jahre älteren Ehemann Carl hatte es im Vorfeld der Deportation Diskussionen gegeben, die zur Rückstellung des Ehepaares führten.

Henny Waldeck mit Sohn Erich (1935). Quelle Foto: Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer, Jüdische Familien in Münster 1918 bis 1945, Teil 1: Biographisches Lexikon, Münster 2001. Bild vergrößern.

Henny Waldeck schilderte ihren Gemütszustand Anfang Dezember 1941 ihrem Sohn Hans: „… gesund sind wir aber so nervös und aufgeregt, wie Du Dir gar nicht denken kannst, wir haben schrecklich sorgenvolle Wochen hinter uns & wer weiß, was uns noch für Sorgen bevorstehen, nächste Woche verreisen viele unserer guten Freunde und Bekannte[n]. Ob wir sie je wiedersehen, glaube ich nicht. … Wir haben die Reise vorläufig aufgeschoben, mit Rücksicht auf Vaters Alter, er kann die Kälte nicht gut vertragen.“
Von einer aktiven Einflussnahme auf die Entscheidung über Transport oder Verbleib, wie sie dieser Brief nahelegen könnte, kann jedoch keine Rede sein. Die Betroffenen hatten den Anordnungen Folge zu leisten. Ausschlaggebend für die Gestapo war die festgesetzte Personenzahl pro Sonderzug. Die Zurückgestellten waren sich daher bewusst, dass ihr Verbleib nur von vorübergehender Dauer war. „… Im Frühjahr wird es wohl so weit sein,“ vermerkte daher Henny Waldeck. Im Dezember 1941, eine Woche vor der ersten Deportation aus Münster, hatte Henny Waldeck den Kindern wegen deren ihrer Meinung nach mangelnder Initiative zu ihrer Rettung massive Vorwürfe gemacht: „… es ist von allen Enttäuschungen, die ich im Leben hatte, die größte …
Wenige Tage nach der zweiten Riga-Deportation am 27. Januar 1942 wurden die noch verbliebenen Juden – ausgenommen die in „privilegierter Mischehe“ lebenden Personen – aus den „Judenhäusern“ in die Marks-Haindorf-Stiftung (ehemalige jüdische Schule) verlegt.

Foto: Lothar Hill. Bild vergrößern.

Dort verblieb das Ehepaar Waldeck die folgenden fünf Monate bis zu seiner Deportation. Ihrem Sohn Hans in Argentinien beschrieb Henny Waldeck die Zustände: „Wir haben Susis [Tochter des vormals dort wohnenden und inzwischen nach Argentinien emigrierten Rabbiners Steinthal] ehemaliges Schlafzimmer, es ist Wohn-, Schlafzimmer, Küche alles zusammen, das wirst Du Dir wohl kaum vorstellen können …“ Die Fluktuation durch Zu- und Wegzug verursachte bei den Bewohnern ein Gefühl bedrohlicher Instabilität und Isolation. Henny Waldeck schreibt in ihrem letzten Brief an ihren Sohn Hans: „Die Gemeinde ist nur klein, wie Du Dir wohl denken kannst, wenn wir alle hier [in der Marks-Haindorf-Stiftung] wohnen, unsere meisten Bekannten sind fort.“ Angesichts der nun unleugbaren Gewissheit, dass auch ihr Ehemann und sie nicht mehr lange in Münster bleiben würden, fügt sie voller Resignation hinzu: „Ach mein lieber Hans, wenn wir uns doch recht bald wiedersehen könnten, aber leider glaube ich nicht, dass es, sobald sein wird und ob es überhaupt noch einmal sein wird?
Vom letzten „Judenhaus“, Am Kanonengraben 4, stellten Carl und Henny Waldeck einen Antrag auf Verkauf von Küchenutensilien, die sich beim Spediteur befanden. Die Genehmigung erreichte sie jedoch nicht mehr. Erst nach der Deportation traf sie ein, sodass der Verkaufserlös nicht mehr ihnen zufiel, sondern dem Staat.

In Erwartung ihrer Heimkehr nach dem Krieg hatte Henny Waldeck dem Juwelier Nonhoff aus Münster „bis zum Kriegsende“ eine Brillantbrosche übergeben, die dieser in Verwahrung nahm. 1952 sandte er sie an die Tochter Gerda in den USA. Trotz aller Versuche von Seiten der Kinder misslang die Emigration des Ehepaares Waldeck. Am 31.7.1942 wurde es mit den letzten Münsteraner Juden in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wohin eine Bekannte ihnen zunächst ab und zu Päckchen schicken konnte. Zwei Jahre später zwei Monate nach dem Tod ihres Mannes (März 1944) wurde Henny Waldeck am 16.5.1944 ins Vernichtungslager Auschwitz verfrachtet und dort ermordet.

*Quelle: Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer, Jüdische Familien in Münster 1918 bis 1945, Teil 1: Biographisches Lexikon, Münster 2001.

Von den im Jahre 1933 ursprünglich 708 Angehörigen der jüdischen Gemeinde Münster wurden 299 Menschen in Konzentrationslager deportiert, von denen nur 24 überlebten. Insgesamt 280 jüdische Bürger verließen Münster und emigrierten ins Ausland, sieben begingen Selbstmord und vier überlebten den Nationalsozialismus in Münster im Untergrund. Abzüglich der 77 Personen, die in diesem Zeitraum eines natürlichen Todes starben, verbleiben 42 Menschen, deren Schicksal ungeklärt geblieben ist. Darüber hinaus wurden aber u.a. auch Deserteure, sog. „Asoziale“, Homosexuelle, Zeugen Jehovas sowie Sinti:zze und Rom:nja aus Münster, Opfer der Nationalsozialisten. Im Rahmen des „Euthanasie-Erlass“ vom 1. September 1939, deportierten die Nazischergen zudem zwischen 1940 und 1943 über 550 Menschen aus der „Heilanstalt Marienthal“ in Münster (heute LWL-Klinik) in Todeslager, wo sie ermordet wurden. Von Haus Kannen in Münster-Amelsbüren wurden 106 Bewohner*innen Opfer der NS-Tötungsmaschinerie.

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Nazi-Opfer aus Münster und der damaligen Gemeinde Wolbeck (seit dem 1. Januar 1975 ein Stadtteil der Stadt Münster)

Laut des am 17. März 2021 vom Rat der Stadt Münster beschlossenen Forschungsprojektes „Gedenken an die verfolgten Homosexuellen und vergessenen Opfergruppen der NS-Zeit und der Nachkriegsjahrzehnte“, wurden mindestens zwischen 400 und 500 Münsteraner*innen zwangssterilisiert, von denen 350 namentlich identifiziert werden konnten. Eines der bekanntesten Opfer ist wohl der Münsteraner Antifaschist, Anarchist und Kommunist Paul Wulf, der 1999 verstarb.

Neue Webseite erinnert an Münsters „vergessene Verfolgte“ – Mehr als 300 bisher nicht bekannte Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung hat der Historiker Timo Nahler vom Stadtarchiv Münster im Rahmen eines städtischen Forschungsprojekts ermittelt.

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